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Rostock-Lichtenhagen 1992

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1992 wütete vor dem Sonnenblumenhaus der Mob. Vier Tage lang flogen Steine und Brandsätze gegen Flüchtlinge, Vietnamesen und Polizeibeamte. Die Anwohner applaudierten. Der Ausnahmezustand überforderte alle – Politik, Polizei und auch die Presse.

Hinweis: Dieses Projekt entstand im Rahmen von 25 Jahre Rostock-Lichtenhagen im Jahr 2017 und wurde jetzt aktualisiert.

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Das Sonnenblumenhaus wurde auch zu einem Medienmagneten. Journalisten aus aller Welt sendeten verstörende Bilder aus Lichtenhagen, die vielen bis heute nicht aus dem Kopf gehen. Vor Ort war auch die Redakteurin der OSTSEE- ZEITUNG, Doris Deutsch, damals hieß sie Doris Kesselring.

Als die damals 31-Jährige am 24. August nach Lichtenhagen kam, erkannte sie den Stadtteil nicht wieder. „Es war nicht zu fassen. Ich hätte so viel Gewalt nicht für möglich gehalten.“ Deutsch spricht von großer Verunsicherung bei den Journalisten selbst. „Nach der Wende dachten wir, vieles wird besser - und dann passierte das.“

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Doris Deutsch
damals Redakteurin im Ressort Mecklenburg-Vorpommern der OSTSEE-ZEITUNG

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Seit Wochen und Monaten hat sich eine aggressive Stimmung in Lichtenhagen angestaut. Im Sonnenblumenhaus befand sich 1992 Mecklenburg-Vorpommerns Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (Zast). Ihre Kapazität betrug maximal 300 Betten. Jeden Tag trafen neue Flüchtlinge ein, die meisten aus Osteuropa. Die Zast war schnell überfüllt.

Auf der Wiese vor dem Haus kampierten bis zu 300 Menschen in der Hoffnung, einen Asylantrag stellen zu können. Sie hatten kein Dach über dem Kopf, keinen Schlafplatz und keine Toiletten. Es kam zu Diebstählen in umliegenden Geschäften. Obwohl Anwohner auf die schlimmen Zustände hinwiesen, reagierten die Verantwortlichen nicht. „Das Versagen der Politik war erschreckend“, sagt Doris Deutsch.


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Mitte August spitzte sich die Lage zu. Bei den Rostocker Medien gingen anonyme Anrufe ein, in denen eine baldige Eskalation angedroht wurde. „Anonymer Anrufer kündigt ,heiße Nacht’ an“, lautet am 19. August die Überschrift auf der Titelseite der Norddeutschen Neuesten Nachrichten. „In der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag wolle man in Rostock-Lichtenhagen Ordnung schaffen“, wird im Beitrag der Anrufer zitiert.

Die Presse fing die Stimmung der Straße auf. Vielfach gaben Journalisten fremdenfeindliche Äußerungen und Drohungen unreflektiert weiter. So lässt die OZ am 21. August unter der Schlagzeile „Lichtenhäger wollen Protest auf der Straße“ drei junge Männer aus dem Stadtteil zu Wort kommen. Erschreckend vorausschauend lesen sich deren Ankündigungen: „Die drei wollen davon wissen, daß die rumänischen Roma ,aufgeklatscht’ werden sollen. ,Die Rechten haben die Schnauze voll!’ ,Wir werden dabei sein’, sagt Thomas, ,und du wirst sehen, die Leute, die hier wohnen, werden aus den Fenstern schauen und Beifall klatschen.’“ Der Autor des Artikels schreibt selbst von „Zigeunern“, die die Männer vertreiben wollen.

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Jan-Peter Schröder
der OZ-Redakteur hatte damals eine Wohnung in Lichtenhagen

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Anfangs beteiligten sich vor allem Einwohner vor Ort und Jugendliche an den Krawallen. Später kamen Neonazis aus ganz Deutschland hinzu. Die Polizei - miserabel vorbereitet, schlecht ausgerüstet, von der Politik im Stich gelassen - bekam die Lage nicht in den Griff. Zwischen Untätigkeit, Zaudern und kopflosem Agieren überließ sie letztlich dem Mob das Feld.

So konnten Tausende nahezu ungehindert gegen Ausländer pöbeln, Neonazis vor einer johlenden Meute Brandflaschen anzünden, Betrunkene den Arm zum Hitlergruß heben. Nach langem Zögern räumten die Behörden am 24. August die Aufnahmestelle im Sonnenblumenhaus. Die Gewalt ging aber weiter.

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Michael Schmidt
damals Redakteur beim Nordmagazin des NDR

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Vom ersten Tag an wurden auch die im Nachbaraufgang lebenden vietnamesischen Vertragsarbeiter angegriffen. Während die Flüchtlinge in andere Aufnahmestätten gebracht wurden, mussten sie im Sonnenblumenhaus bleiben. Die gesamte Gewalt der Neonazis und die Beschimpfungen Tausender Gaffer richteten sich nun gegen sie. Mehrere Wohnungen wurden angezündet.

In Fernsehinterviews und Zeitungsartikeln beteuerten die Randalierer zuvor, nichts gegen die Vietnamesen zu haben. Denn sie kamen schon vor Jahren als Vertragsarbeiter in die DDR und verhielten sich unauffällig. Genützt hat es ihnen nichts - für den Mob waren sie Ausländer.

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Michael Schmidt
damals Redakteur beim Nordmagazin des NDR

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Im Haus selbst waren 120 Vietnamesen, ein fünfköpfiges Fernsehteam des ZDF sowie einige Rostocker eingeschlossen. Sie drohten an Rauchvergiftung zu sterben, denn die Wohnungen in den unteren Stockwerken brannten schon. Den Eingeschlossenen gelang es, im elften Stockwerk zwei Türen aufzubrechen und über das Dach zu flüchten.

Am nächsten Morgen hat Doris Deutsch die gleiche Route genommen. Das Haus qualmte noch. Zusammen mit dem Hausmeister kletterte sie durch die Luke aufs Dach und war davon erschüttert, was die Menschen in der Nacht durchlebt haben müssen. „Sie mussten bei Dunkelheit aufs Dach steigen, auch Kinder und Schwangere waren dabei. Unten tobte der Mob, überall hat es gebrannt.“ Dieses Bild hat Deutsch immer noch vor Augen.

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Die Rolle der lokalen Medien haben bereits die Autoren der Publikation „20 Jahre Rostock-Lichtenhagen. Kontext, Dimensionen und Folgen der rassistischen Gewalt“, herausgegeben von der Universität Rostock, untersucht. OZ und NNN hätten sich durch die Wiedergabe rassistischer Leserbriefe und gleichlautender Bürgerkommentare „als Transporteur und Legitimationsinstanz solcher Vorstellungen“ erwiesen.

Die Lokalpresse habe die Vorurteile der Bevölkerung gegenüber den Roma kommentarlos wiedergegeben. Diese Ressentiments seien nicht hinterfragt und eine Diskussion mit den betroffenen Flüchtlingen nicht geführt worden. Stattdessen seien „rassistische Meinungsäußerungen, Gerüchte und sogar Aufrufe zur Gewalt“ abgedruckt worden.

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Doris Deutsch
damals Redakteurin im Ressort Mecklenburg-Vorpommern der OSTSEE-ZEITUNG

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25 Jahre nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Lichtenhagen wurde eine Gedenkstele vor dem Rostocker Medienhaus der OSTSEE-ZEITUNG enthüllt. Auf der hüfthohen, weißen Mamorstele können Vorbeigehende mit Worten puzzeln: „Recht“, „Asyl“, „Neid“, „Mut“, „Angst“ sowie „vor“, „auf“ und „zu“.

Das Kunstwerk soll die Medien, deren tägliches Geschäft der Umgang mit Worten ist, an ihre Verantwortung erinnern. Das erklärte Künstlerin Alexandra Lotz, die die Stele zusammen mit Tim Kellner erschaffen hat. Im August 1992 seien die Rostocker Medien dieser Aufgabe nicht immer gerecht geworden und hätten zur Eskalation vor dem Sonnenblumenhaus beigetragen.

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Jan-Peter Schröder
der OZ-Redakteur hatte damals eine Wohnung in Lichtenhagen

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