Die Reportage im Bild Wenn Meister vom Himmel fallen
Die Mecklenburger Michael Jung (42) und Mario Bosecke
(43)
bilden zusammen mit ihrem
Videoflyer
das erfolgreichste Team der deutschen Freefly-Szene. In den letzten drei Jahre sind sie in Folge Deutscher
Meister
geworden.
Text: Antje Bernstein
Fotos/Videos: Dietmar Lilienthal, Sebastian Schmidt
Jeder Sprung ist ein Fall für Drei:
Seit 2017 hält Christian „Chrissi“ Richter alle Tricks, die Michael Jung und
Mario Bosecke in der Luft vollführen, mit einer Helmkamera fest.
Beim Training auf Usedom übernahm ausnahmsweise Sebastian Schmidt (Mitte) die Rolle des Videoflyer. Er war früher teil des 3-Fly-Teams.
Anhand seiner Clips bewerten Wettkampfjuroren, wie schwierig und
stylisch die Figuren seiner Teamkollegen sind. Auch im Training sind
die Aufnahmen wichtig – zur Fehleranalyse.
Totem nennt sich diese Figur.
Michael Jung stellt sich auf die
Schultern seines Kompagnons. Beide strecken die Körper durch,
breiten die Arme aus und drehen sich wie ein Brummkreisel um die
eigene Achse. Daraus entwickelt sich ein
Paartanz, bei dem sich die Akrobaten in spektakulärer Choreografie
umkreisen und mit bis zu 300 km/h durch die Luft rauschen.
Um Kür- und Pflichtfiguren in der Luft zu beherrschen, muss bereits am Boden viel abgesprochen und tanzend einstudiert werden.
Pilot Falko Wünschkowski bringt in der Trainingswoche auf Usedom die Fallschirmspringer auf ihre Sprunghöhe von 4000 Metern
Konzentration vor dem Sprung. Freefly ist zu 90 Prozent eine mentale
Herausforderung. Den Puls auf Kommando runterfahren, trainieren die Sportler.
Springer sind doppelt
gesichert: Im Rucksack stecken ein Haupt- und ein Reserveschirm.
Ersteren hat Mario Boeske bislang elf Mal ausklinken müssen – bei
weit über 7000 Sprüngen. In diesen Fällen trug ihn der Ersatz
sicher zur Erde.
Die Insel liegt den Springern zu Füßen:
4000 Meter über Usedom klettern sie aus der Seitentür des Flugzeugs.
Strand und Achterland sehen von hier oben aus wie ein
Puzzle.
Freefly, der freie Flug, zählt zu den
kreativsten Disziplinen im Fallschirmsport. Im Gegensatz zur
klassischen Bauchlage nehmen die Skydiver dabei komplizierte Figuren
ein.
Rasant wie Formel-1-Rennwagen sausen
sie kopfüber auf die Erde zu.
Brüllen bringt hier oben nichts. Den
Skydivern genügt ein Blick, eine Geste.
Zurück auf der Erde und auf dem Boden
der Tatsachen: Der Stand-Up-Star – eine Figur, bei der sich die
Springer stehend an den Händen halten – sitzt noch nicht perfekt.
Kein Grund zur Panik. „Wenn wir schon vier Wochen vor dem Wettkampf
alles drauf hätten, dann haben wir’s uns zu leicht gemacht“,
sagt Jung.
Im Herbst wollen sie nach Australien,
zu den Weltmeisterschaften in Brisbane. Über der Gold Coast fällt
vom Himmel, was in der Szene international Rang und Namen hat. Das
3-Fly-Team mischt mit.
Seinen Jungfernsprung hat Michael Jung
als 20-Jähriger erlebt. Seither ist Jung weit über 3000 Mal aus
Flugzeugen gesprungen. Heimsprungplatz, des gebürtigen
Wismaraners ist seit Ende der 90er Jahre Neustadt-Glewe (Ludwigslust-Parchim).
Beim hiesigen Fallschirmsportclub lernte er Mario Bosecke kennen. 2003
gründeten Jung und Bosecke – bekannt als „Habicht“ und „Dr.
Dent“ – das 3-Fly-Team und stürzen seit 15 Jahren nun gemeinsam ins Vergnügen.
Im Bild und Video: Das Packen der Fallschirme nach dem
Sprung.
Die komplette Reportage von Antje Bernstein Wenn Meister vom Himmel fallen Mit 300 km/h Richtung Erde: Auf einen Sprung beim Top-Team der deutschen Freefly-Szene
Die komplette Reportage von Antje Bernstein Wenn Meister vom Himmel fallen Mit 300 km/h Richtung Erde: Auf einen Sprung beim Top-Team der deutschen Freefly-Szene
Die Insel liegt ihnen zu Füßen:
4000 Meter über Usedom klettern Michael Jung (42) und Mario Bosecke
(43) aus der Seitentür des Flugzeugs.
Über dem Stettiner Haff biegt sich der
Horizont. Strand und Achterland sehen aus wie ein Puzzle.
Die Männer tauschen ein Grinsen,
reichen sich die Hand und springen. Rasant wie Formel-1-Rennwagen
sausen sie kopfüber auf die Erde zu. Luftwiderstand und Wind ballern
und zerfetzen jedes Wort. Selbst Brüllen bringt hier oben nichts.
Den Skydivern genügt ein Blick, eine Geste. Schon stellt sich
Michael Jung auf die Schultern seines Kompagnons. Beide strecken die
Körper durch, breiten die Arme aus und drehen sich wie ein
Brummkreisel um die eigene Achse. Totem nennt sich die Figur. Daraus
entwickelt sich ein Paartanz, bei dem sich die Akrobaten in
spektakulärer Choreografie umkreisen und mit bis zu 300 km/h durch
die Luft rauschen. Hier fallen Meister vom Himmel
Freefly, der freie Flug, zählt zu den
kreativsten Disziplinen im Fallschirmsport. Im Gegensatz zur
klassischen Bauchlage nehmen die Skydiver dabei komplizierte Figuren
ein. Michael Jung und Mario Bosecke stürzen sich seit 15 Jahren
gemeinsam ins Vergnügen. Die Mecklenburger bilden das erfolgreichste
Team der deutschen Freefly-Szene. Deutscher Meister sind sie die
letzten drei Jahre in Folge geworden. Ende August wollen sie den
Titel in der Eifel verteidigen.
Heute wird trainiert. Am Himmel über
Usedom geht Michael Jung in die Hocke, fast so, als würde er sich
auf eine Wolke setzen wollen. Mario Bosecke kreist kopfüber um
seinen Teamkollegen. Nach 45 Sekunden ist der Tanz vorbei. Auf gut
1000 Meter Höhe driften die Männer auseinander und lösen ihre
Schirme aus. Zurück auf der Erde und auf dem Boden der Tatsachen:
Der Stand-Up-Star – eine Figur, bei der sich die Springer stehend
an den Händen halten – sitzt noch nicht perfekt. Kein Grund zur
Panik. „Wenn wir schon vier Wochen vor dem Wettkampf alles drauf
hätten, dann haben wir’s uns zu leicht gemacht“, sagt Jung. Er
liebt den Kick des freien Falls heute genauso sehr wie beim
allerersten Mal.
Seinen Jungfernsprung hat Michael Jung
als 20-Jähriger erlebt. Daran erinnern kann er sich heute kaum. Zu
berauschend ist das Adrenalin, als er über Tschechien abspringt.
„Nach der Landung hatte ich einen Lachkrampf.“ Sensory Overload
nennt man das, wenn Reize alle Sinne überfluten und pure Euphorie
den Körper durchströmt. Den Rausch will sich Jung gleich wieder
geben. Kurz vor dem zweiten Sprung aber meldet der Verstand Bedenken
an. „Ich stand in der Tür und dachte mir ,Was machst du hier für
einen Blödsinn? Du könntest schön da unten im Café sitzen.
Stattdessen bist du hier oben und hast die Hosen voll.’“ Der
Zweifel verfliegt binnen einer Sekunde.
Seither ist Jung weit über 3000 Mal
aus Flugzeugen gesprungen. Seine Homedropzone, seinen
Heimsprungplatz, findet der gebürtige Wismarer Ende der 90er Jahre
in Neustadt-Glewe (Ludwigslust-Parchim). Beim hiesigen
Fallschirmsportclub lernt er Mario Bosecke kennen. Der kann, was zu
jenem Zeitpunkt der neuste Hype am Himmel ist: Freefly. „Ich fand’s
total irre und wollte es unbedingt ausprobieren“, sagt Jung. Der
Rest ist Geschichte: 2003 gründen Jung und Bosecke – bekannt als
„Habicht“ und „Dr. Dent“ – das 3-Fly-Team.
Wie der Name verrät, ist jeder Sprung
ein Fall für Drei: Ein sogenannter Videoflyer hält alle Tricks, die
Michael Jung und Mario Bosecke in der Luft vollführen, mit einer
Helmkamera fest. Seit 2017 übernimmt Christian „Chrissi“ Richter
diesen Job. Anhand seiner Clips bewerten Wettkampfjuroren, wie
schwierig und stylisch die Figuren seiner Teamkollegen sind. Auch im
Training sind die Aufnahmen wichtig – zur Fehleranalyse. Manch
vergurkte Luftnummer erweist sich im Nachhinein bei der
Videoauswertung als sehenswerte Showeinlage und kommt ins
Kürprogramm.
Für ihre Leidenschaft geben Jung und
Bosecke viel Geld aus. Pro Jahr und Mann gehen da gut und gerne 2500
Euro aus eigener Tasche drauf – allein für die Sprünge. Dieses
Jahr müssen Beide ihr Budget sprengen und das Fünfache hinblättern:
Im Herbst wollen sie nach Australien, zu den Weltmeisterschaften in
Brisbane. Über der Gold Coast fällt vom Himmel, was in der Szene
international Rang und Namen hat. Das 3-Fly-Team mischt mit. Die
Konkurrenz ist blutjung. „Die sind 19, wir Anfang vierzig, also
Opas“, scherzt Jung. Dabei ist ihre Erfahrung ihr Erfolgsgeheimnis:
Während sich viele deutsche Teams nach einer Saison trennen, weil es
terminlich oder menschlich nicht passt, sind Jung und Bosecke seit 15
Jahren ein Duo. „Wie ein altes Ehepaar“, schmunzelt Jung.
Das nötige Kleingeld für sein Hobby
verdient Wahl-Berliner Bosecke bei Prysmian, dem Weltmarktführer für
Seekabel. Jung arbeitet beim Stiftehersteller Edding, lebt in
Hamburg. An den Wochenenden und wann immer es die Zeit zulässt,
treffen sie sich in Neustadt-Glewe. Ihre Frauen und Kinder haben die
Männer meist mit dabei. Im Sommer geht’s für alle ab auf die
Insel, zum Boogie auf Usedom. Das einwöchige Springerlager zieht
selbst Profis aus Italien und Alaska an.
Das 3-Fly-Team fällt selbst aus allen
Wolken, egal, ob die über den USA oder Südeuropa hängen.
Unvergesslich: Der Freefly über der Palmeninsel von Dubai bei den
World Air Games 2015. „Der Knaller“, schwärmt Jung. Von
Traumkulissen dürfe man sich aber nicht ablenken lassen. Ebenso
wenig wie vom Gedanken daran, was schlimmstenfalls passieren könnte.
In Deutschland sterben jährlich zwei
bis acht Menschen beim Fallschirmspringen. In der Statistik sind
allerdings Basejumper miteingerechnet – jene, die sich mit
Fallschirm auf dem Rücken von Wolkenkratzern stürzen. Die
Todesfälle seien ausnahmslos auf menschliches Versagen
zurückzuführen, sagt Jung. Die Springer hätten das Wetter, die
Flughöhe, die Entfernung zu Erde und Hindernissen falsch
eingeschätzt oder ihre Ausrüstung nicht beherrscht. Dabei sind die
Springer doppelt gesichert: Im Rucksack stecken ein Haupt- und ein
Reserveschirm. Ersteren hat Mario Boeske bislang elf Mal ausklingen
müssen – bei weit über 7000 Sprüngen. In diesen Fällen trug ihn
der Ersatz sicher zur Erde. „Der Reserveschirm geht zu 1000 Prozent
auf. Wir sind nicht bescheuert. Wir riskieren nicht unser Leben für
’ne Nummer“, stellt Michael Jung klar.
Das Kopfkino läuft trotzdem: Geht der
Schirm auf wie er soll, klappen die Figuren? Freefly ist zu 90
Prozent eine mentale Herausforderung. „Der Rest ist Koordination
und Körpergefühl“, sagt Michael Jung. Ein guter Skydiver müsse
sein wie „ein Wassertropfen: außen Grundspannung, innen flexibel.“
Lässigkeit ist auch im Wettkampf Trumpf. Was leicht aussieht, ist
Schwerstarbeit. „Du musst auf den Punkt entspannt sein in einer
Situation, in der rein gar nichts entspannt ist“, sagt Jung. „Wenn
man sich unter Druck setzt, wird’s gruselig.“ Den Puls auf
Kommando runterfahren, das könne man trainieren. Von übertriebenem
Ehrgeiz hält das 3-Fly-Team ohnehin nichts, der Spaß steht im
Vordergrund. Die WM lohnt sich allein schon deshalb, weil sie dort
coole Leute treffe und sich von ihnen Tricks abschauen kann.
Titelchancen rechnen sich die Mecklenburger nicht aus. „Hauptsache
nicht Letzter werden“, sagt Jung und lacht. Platz 14 war ihr bis
dato größter WM-Erfolg. Alle, die vor ihnen landeten sind Profis,
die jeden Tag trainieren. Die Franzosen beispielsweise schicken
Berufsfallschirmspringer an den Start. Andere Teams können es sich
leisten, regelmäßig im Windkanal, dem sogenannten„Tunnel“, zu
trainieren. Die 1000 Euro pro Stunde leistet sich das 3-Fly-Team nur
vor einer Meisterschaft. Sonst üben Jung und Boescke Kür- und
Pflichtfiguren im Freien ein. Wenn denn das Wetter mitspielt. Oft
genug müssen sie am Boden ausharren.
Jetzt geht dem Wind zum Glück die
Puste aus. Sofort schultern die Männer ihre Rucksäcke und lassen
sich vom Flieger auf Sprunghöhe bringen. Kurz darauf fallen über
Usedom wieder echte Meister vom Himmel.