Jahresrückblick 2017 Diese Themen haben MV bewegt
Das Jahr 2017 war voller Ereignisse: Stürme an der Ostsee, Skandale in der Politik, ein Riesenloch in der Autobahn und und und. Natürlich gab es auch schöne Momente wie die Rostocker Hanse Sail: Friedensbotschafter und Magnet für eine Million Besucher.
Wir haben sieben Themen zusammengestellt, die unsere Leser - und natürlich auch die Redaktion - in diesem Jahr besonders bewegt haben. Schauen Sie rein.
A 20 versinkt im Moor
A 20 versinkt im Moor
Totalschaden: A 20 bricht bei Tribsees auseinander
Ein riesiges Loch klafft im Asphalt an der Autobahn 20 bei Tribsees (Vorpommern-Rügen). Am 9. Oktober
ist nahe der Trebeltalbrücke ein etwa 400 Quadratmeter großes Stück der Autobahntrasse abgerutscht. Die Fahrbahn sackte um 2,5 Meter ab.
Der Verkehr Richtung Rostock stand zu dem Zeitpunkt schon seit einigen Tagen still, später wurde auch die Fahrbahn Richtung Stettin gesperrt: Totalschaden an der wichtigsten Ost-West-Verbindung in MV.
Die A 20 bei Tribsees ist erst 2005 in Betrieb gegangen. Bei ihrem Bau wurde auf neuartige – und vor allem günstigere – Technologien zurückgegriffen.
Statt der traditionellen Bauweise einer Moorbrücke mit mächtigen
Betonpfeilern sind sehr viel schlankere Säulen, aber
wesentlich mehr davon, eingesetzt worden, um die Straße zu tragen.
Das System, das den Fahrbahndamm auf dem moorigen Untergrund
an der Trebel stabilisieren sollte, ist aber vor dem Bau nie in einem
vergleichbaren Moorgebiet getestet worden.
Einige der 60 000 Beton-Pfeiler sind wohl gebrochen, was zum Abrutsch der Autobahn geführt hat. Sie hatten lediglich einen
Durchmesser von 15 Zentimetern. Laut Unterlagen, in denen der
Autobahnbau akribisch dokumentiert ist, hätte der Durchmesser mindestens
zwischen 18 und 22 Zentimetern liegen sollen.
Verkehrsminister Christian Pegel (SPD) kündigt an, bei der Sanierung des
Autobahnabschnitts zur althergebrachten Bauweise zurückzukehren. „Wir
werden jetzt nachträglich eine traditionelle Moorbrücke errichten
müssen“, sagt Pegel. Damit bestätige sich in dem Fall leider die
Redewendung: „Wer billig kauft, kauft doppelt.“
Schätzungen der zuständigen Behörden zufolge wird die Lebensader der Ostsee-Küste mindestens
für einen Zeitraum von drei Jahren nicht passierbar sein.
Der gesamte Verkehr wird aktuell über das kleine Langsdorf umgeleitet.
Langsdorf wird zum Nadelöhr
Seit dem Ende November eine Behelfsausfahrt gebaut wurde, wird der gesamte Autobahnverkehr durch Langsdorf umgeleitet.
Rund 20 000 Fahrzeuge fahren täglich durchs Dorf, davon 1100 Laster. Erlaubt sind 30 Kilometer pro Stunde.
Ein Problem für die Dorfbewohner sind die Raser. Messungen haben ergeben, dass über 90 Prozent der Autos zu schnell unterwegs waren. Daraufhin wurde Mitte Januar ein Blitzer im Dorf installiert.
Chronist von Tribsees
Siegfried Casper kennt den Abschnitt der A 20 vor den Toren seiner Heimatstadt Tribsees so so gut wie sein eigenes Haus. Er hat fast jeden Handschlag auf der Baustelle mit seiner Videokamera festgehalten.
So verfügt der 78-Jährige über eine DVD, auf der der Beginn der Arbeiten an jener Stelle der A20 zusehen ist, in der heute ein Autobahnstück im Moor versinkt.
Die Aufnahmen vom 24. Oktober 2001 zeigen eine gelbe Baumaschine inmitten grüner Landschaft. Dazu kommentiert der Hobbyfilmer aus dem Off: „Ich will hier mal das Baugerät zeigen, mit dem 60 000 Löcher ins Moor gebohrt werden.“ Heute weiß Siegfried Casper, dass er damals genau an jener Stelle stand, über die heute alle reden.
Sturmtief „Axel“ bedroht die gesamte Ostseeküste
Sturmtief „Axel“ bedroht die gesamte Ostseeküste
„Axel“: Heftigster Sturm seit 2006
Weggespülte Strände und Dünen, überschwemmte Straßen, Autos unter Wasser, vollgelaufene Keller: Tief „Axel“ hat in der Nacht gleich am Anfang des Jahres 2017 erhebliche Schäden an der Ostseeküste angerichtet.
Auf Spitzenstände von 1,80 Meter über Normal stieg das Wasser bei der schwersten Ostsee-Sturmflut seit zehn Jahren. Besonders betroffen waren die Inseln Rügen und Usedom. Dort brachen Steilküsten ab und wurden Seebrücken beschädigt. In den Städten wie Stralsund, Rostock oder Wismar (siehe Bild) wurden Straßen und Hafenbereiche überflutet. Feuerwehren mussten Keller leer pumpen.
Der Deutsche Wetterdienst warnte frühzeitig. Überall im Land wappneten sich Kommunen für
die schwere Sturmflut. So wurde in
Greifswald das Sperrwerk erstmals komplett geschlossen, um
die Stadt vor dem Hochwasser zu schützen. Auch sonst hielten die Schutzanlagen im Land stand. Glücklicherweise kamen durch die einströmenden Wassermassen keine Menschen zu Schaden.
Vor
Graal-Müritz (Landkreis Rostock) und Wustrow (Fischland)
hat Sturmtief „Axel“ den Küstenschutz bedrohlich angenagt, sodass die
Strandabschnitte schnellstmöglich wieder aufgebaut werden mussten.
Die schwere Sturmflut hat an der Ostseeküste Schäden in Millionenhöhe verursacht.
Als Sofortmaßnahme hatte die Landesregierung einen ressortübergreifenden Hilfsfonds in Höhe von 25 Millionen Euro gegründet. Bis Mai haben Kommunen 52 Anträge auf
insgesamt
13,6 Millionen Euro eingereicht. Die tatsächlichen Auszahlungen verliefen teilweise schleppend. Einige Kommunen warfen der Landesregierung Intransparenz bei der Vergabe der Gelder vor
Sturmflut reißt Strände weg – und einen Imbiss gleich mit
In Zempin auf der Insel Usedom haben Wassermassen
einen Teil des Steilufers fortrissen
und damit ein Imbiss
komplett zerstört. „Meine Existenz ist weg“, sagte Betreiberin Petra Hofmann. Sie erhob schwere Vorwürfe gegen das Umweltministerium: „Die Küste ist hier nicht geschützt.“
Für den zerstörten Kiosk wurde eine mobile Lösung – als Leihvariante – am Promenadenplatz gefunden. Die Gemeinde gab einen neuen
Imbisswagen
in Auftrag, damit Hoffmann
wieder in die Nähe ihres alten Standortes kann – an die Steilküste.
Langes Aufräumen
Vor allem Rügen, Usedom und Vorpommern wurden durch das Sturmtief
„Axel“
getroffen. Auch rund vier Monate danach waren die Reparaturarbeiten in den Küstengemeinden noch in vollem Gange.
In
Lubmin zum Beispiel wurde auf 1,5 Kilometern Länge Dünensand aufgeschoben.
An der Küste von Göhren, Lobbe, Thiessow und Glowe auf der Insel Rügen führte das Amt für Landwirtschaft und Umwelt Arbeiten an den Dünen aus. Geplant wurden weitere Aufspülungen an der
Küstenschutzdüne.
Skandale in der AfD-Fraktion
Skandale in der AfD-Fraktion
AfD in Not: Vergewaltigungsfantasien und Parteiaustritte
Im Jahr 2017 sorgte die AfD-Fraktion im Schweriner Landtag für reichlich Skandale. Ende August hat der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD im Landtag, Holger Arppe, überraschend
seinen Austritt aus der Fraktion verkündet.
Grund für seinen Austritt war die Veröffentlichung von privaten Whatsapp-Chats, in denen Arppe Rassismus und Mordaufrufe, Vergewaltigungsfantasien und Pädophilie
offenbart.
Der Landtag hob daraufhin die Immunität des Abgeordneten auf. Der
Forderung, sein Mandat niederzulegen, war Arppe jedoch ebenso wenig
nachgekommen wie der nach einem Parteiaustritt.
Nur wenige Wochen später kam es zu einem weiteren Eklat: Nach der Ankündigung von AfD-Bundeschefin Frauke Petry, nicht der neuen Bundestagsfraktion anzugehören, haben sich auch vier Abgeordnete im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern von der AfD-Fraktion abgewendet.
Mathias Manthei (Anklam), Bernhard Wildt (Rügen), Ralf Borsche (Stralsund) und Christel Weißig (Rostock) schlossen sich zur neuen Fraktion „Bürger für Mecklenburg-Vorpommern“ (BMV) zusammen. Fraktionschef wurde
Bernhard Wildt sein, der zuvor neben Leif-Erik Holm AfD-Landessprecher war.
Nur wenig später verließen
Wildt, Weißig
und Manthei die AfD. Auch Borschke hat vor, aus der Partei auszutreten Aktuell arbeiten die vier Abgeordneten an der Gründung einer neuer Partei
–
bürgerlich-konservativ, weniger radikal und
über kurz oder lang ein möglicher Partner für die Christ-Demokraten.
Protokoll der Perversionen
12 000 Seiten mit privaten Chats des Rostocker Landtagsabgeordneten Holger Arppe sind dem NDR und der Tageszeitung „taz“ aus einer anonymen Quelle zugespielt worden.
Der AfD-Politiker fordert
in einer Unterhaltung am 11. August 2015 beispielsweise
Massenhinrichtungen von Sozialdemokraten und Grünen und den Umsturz des
demokratischen Systems: „Da muss man einfach ausrasten und erstmal das
ganze rot-grüne Geschmeiß aufs Schafott schicken. Und dann das Fallbeil
hoch und runter, dass die Schwarte kracht.“
Selbst Sex mit Kindern ist für Arppe laut der
Chat-Protokolle kein Tabu: In einer Unterhaltung am 13. Oktober 2011
fantasiert er über „eine riesige F ... orgie vor dem Südstadtcenter“ in
Rostock. Unter
anderem schreibt er: „Auf so ’ner Springburg kann man schön f . . .“
Damit nicht genug: „Dann wollen die Kinder alle mitspielen.“
Holger Arppe selbst spricht von einer „Rufmordkampagne“ und will nichts über die veröffentlichten Chats wissen.
„Das Projekt AfD ist beendet“
Die „Bürger für Mecklenburg-Vorpommern“ (BMV), die sich im Landtag Ende September von der AfD-Fraktion wegen zunehmender Radikalisierung abspalteten, planen den nächsten Coup: Ende Januar soll eine neue Partei gegründet werden. Ziel sei es, auch möglichst viele unzufriedene AfD-Leute abzuwerben. „Das ist eine Kampfansage“, erklärte Bernhard Wildt.
Matthias Manthei erhob schwere Vorwürfe gegenüber Vertretern des
völkisch-nationalistischen Flügels. Die AfD sei für ihn gescheitert.
„Das Projekt ist beendet. Es hat seine Aufgabe erfüllt. Jetzt bietet es
keine Perspektive mehr.“
Christel
Weißig, Matthias Manthei, Bernhard Wildt und Ralf Borschke
treten aus der
AfD-Fraktion im Landtag aus.
Tod an Rügnes Kreidefelsen
Tod an Rügnes Kreidefelsen
Gefährlicher Leichtsinn an Rügens schönster Stelle
Es gibt kaum einen Ort in Deutschland, der Schönheit und Schrecken so sehr vereint wie die Kreidefelsen auf Rügen. In den Zeitungen findet man Titelzeilen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. So las man etwa: „20-Jährige stürzt von Kreidefelsen in den Tod“; auf der anderen Seite aber auch: „Rügens romantische Seite“.
Im Jahr 2017 sind zwei Menschen praktisch am selben Ort
–
der Ernst-Moritz-Arndt-Sicht im Nationalpark Jasmund
–
in die Tiefe gestürzt und haben ihr Leben verloren. Im April war eine 20-jährige Hamburgerin von einem Kreidefelsen in den Tod gestürzt. Anfang September starb dort ein 57-jähriger Mann aus Salzgitter. Und im Spätsommer musste eine Frau in höchster Not aus der Steilküste von Ahrenshoop gerettet werden.
Politik, Polizei und Nationalparkverwaltung sind angesichts der Tatsache, dass Spaziergänger immer wieder die Wege verlassen, gleichermaßen ratlos. Hinweise, die Wege nicht zu verlassen, bleiben ebenso unbeachtet wie Schilder, die auf Abbruchgefahr hinweisen.
„Wir haben bereits versucht, Trampelpfade mit Totholz zu blockieren oder hölzerne Absperrungen zu installieren“, sagte Ingolf Stodian, Dezernatsleiter des Nationalparks Jasmund. Alles vergebens.
Die berühmten Kreidefelsen unterliegen einer ständigen Küstendynamik. Wenn dann Abbrüche die Sicherheit des Weges gefährden, werde deren Verlauf zurückverlegt. Oft würden jedoch die alten Wegverläufe nahe der Uferkante begangen, die bereits teilweise unterhöhlt sei.
Für Besucher des Nationalparks aber gilt: Wer die Warnungen der Fachleute respektiert, setzt sich keinem Risiko aus – und wer ganz sicher gehen möchte, kann sich einer der geführten Wanderungen oder Foto-Safaris anschließen.
Tragischer Tod am Heimatstrand
Immer wieder kommt es zu tragischen Unfällen an der Steilküste. Einige begeben sich gefährlich nah an die Abbruchkante, andere versuchen, den Felsen hinaufzuklettern.
Im Mai wurde ein
92-jähriger Rüganer bei einem
Steilküstenabbruch
bei Klein Zicker auf Rügen tödlich verletzt.
Der Mann hatte trotz Absperrungen Baggerarbeiten an der
Steilküste beobachtet, als es zu einem Abbruch von
Geröll kam.
Ein Lehmklotz hatte sich aus der Steilwand gelöst, war auf ihn
herabgestürzt und hatte ihn schwer verletzt. Im Greifswalder Klinikum
erlag der Rentner seinen Verletzungen.
Sellering tritt zurück – Schwesig rückt nach
Sellering tritt zurück – Schwesig rückt nach
Schock-Diagnose Krebs
Ende Mai warf eine Krankheit den Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern aus der Bahn. Erwin Sellering trat als Ministerpräsident und SPD-Vorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern zurück. Seine Ärzte hatten Lymphdrüsenkrebs bei dem 67-Jährigen festgestellt. Selbst für enge Vertraute kam der Schritt überraschend. Sellering achtete sehr auf seine Fitness und Gesundheit – und er wirkte jünger.
„Die Diagnose war ein schwerer Schock für mich“, sagte Erwin Sellering selbst. Eine „massiven Therapie“ habe es ihm nicht mehr erlaubt, das Amt so auszufüllen, wie es seinen Ansprüchen entspreche. „Nach fast neun Jahren als Ministerpräsident scheide ich mit großer Dankbarkeit aus diesem Amt, das es mir ermöglicht hat, einen Beitrag für eine gute Zukunft unseres Landes zu leisten“, sagte der Sozialdemokrat.
Die Betroffenheit über Sellerings schwere Erkrankung war groß. Vertreter von Parteien, Firmen, Verbänden und zahlreiche Bürger wünschen dem scheidenden Landesvater alles Gute. „Ich habe großen Respekt vor Erwin Sellering. Ich wünsche ihm und seiner Familie Kraft für die kommenden Monate“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kurz nach dem Bekanntwerden der Erkrankung.
Einen Monat später wurde damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig zur Ministerpräsidentin und SPD-Parteivorsitzenden in MV gewählt. Die 43-jährige Schwerinerin kehrte Berlin den Rücken zu und widmete sich ab dem 4. Juli ganz der Landespolitik.
Politisches Talent früh erkannt
Mit Manuela Schwesig tritt erstmals eine Frau an die Spitze von MV. Sie war Stadtvertreterin in Schwerin, Landessozialministerin, Bundesfamilienministerin. Früh schon erkannte Sellering das politische Talent der Diplom- Finanzwirtin.
2008 holte er sie in sein Kabinett. Als Landesministerin sorgte sie dafür, dass mehr Geld in Kitas fließt. 2013 wechselte Schwesig als Bundesministerin nach Berlin. An der Spitze des Ressorts für Familie, Senioren, Frauen und Jugend machte sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu einem ihrer Hauptanliegen.
Comeback nach Krebs
Mitte Dezember meldete sich Erwin Sellering zurück im Landtag. Der frühere Ministerpräsident des Landes seine Arbeit in der Landtagsfraktion wieder aufgenommen. Mehr als ein halbes Jahr war er wegen Lymphdrüsen- Krebs ausgefallen. Als einfaches Mitglied der Fraktion will er weitermachen.
Hager, blass und ohne Haare, doch mit blitzenden Augen stellte sich Sellering gleich den Journalisten. Die Schlagzeile des Tages wollte er gleich selbst diktieren: „Ministerpräsident a. D. ist wieder fit“.
Top-7: Beliebteste Live-Events 2017
„Live-Ticker zur Bundestagswahl“, „Debatte um Ernst Moritz Arndt in Greifswald“ und „Marteria verkündet Konzert im Ostseestadion“. Diese und weitere Events haben die OZ-Leser im Jahr 2017 am meisten live verfolgt. Die Top-7 der beliebtesten Live-Streams.
Hanse-Sail: Größtes Fest des Jahres
Hanse-Sail: Größtes Fest des Jahres
Die Traditionsschifffahrt lebt und hat Zukunft
Fast 200 Traditionssegler und mehr als eine Million Gäste aus aller Welt: Im August startete in Rostock die Hanse Sail – das größte Volksfest an der Küste.
Von Kutter über Gaffelschoner und Galiot bis hin zu Vollschiff und Zeesenboot – Hauptattraktionen der Sail waren wieder die Schiffe, die etwa eine Million Gäste an die Ostsee und Warnow gelockt haben.
„Die weltweite Traditionsschifffahrt lebt und hat eine Zukunft“, lautet die Botschaft der Hanse Sail – und die ist durchaus kämpferisch gemeint: Denn vielen Traditionsschiffen droht das Aus. Grund ist eine vom Bundesverkehrsministerium geplante neue Sicherheitsverordnung.
An die 30 000 Gäste haben bei dieser Sail auf den Schiffen hinaus auf die Ostsee gesegelt oder oder gedampft. Etwa auf den „jungen Alten“, das sind Großsegler, die ab dem Jahr 1980 neu gebaut wurden.
Einer der Höhepunkte: Bei der Hanse-Sail-Regatta lieferten sich der
Zweimaster „Greif“ und der Dreimaster „Royal Helena“ ein rasantes Duell.
Wie in den Vorjahren waren auch 2017 altehrwürdige Berühmtheiten wie die Viermast-Barken „Sedov“ (Baujahr 1921) und „Kruzenshtern“ (1926) – die beiden „größten noch aktiven Windjammer der Welt“. Voll unter Dampf luden die Dampfeisbrecher „Stettin“ und „Wal“ vom Rostocker Fischereihafen aus zu Törns ein.
An Land luden 460 Marktstände, 60 Fahrgeschäfte und Bühnen zum Verweilen ein. Auf einer Gesamtlänge von 3,5 Kilometern erstreckten sich die maritimen Bummelmeilen in Rostock und Warnemünde. Auf den Bühnen traten Stars und Sternchen auf.
Für die Hansestadt und ganz Mecklenburg- Vorpommern ist die Sail aber längst mehr als nur eine Party: Sie ist ein Wirtschaftsfaktor für die gesamte Region. „Laut dem Rostocker
Tourismuschef
Matthias Fromm
bringt die Sail der Wirtschaft in MV rund 50 Millionen Euro pro Jahr ein.
Heiteres Fest totz angespannter Sicherheitslage
Zwei kleine Schatten und ganz viel Licht – das war die Bilanz der 27. Hanse Sail. Für Aufregung sorgte die Kollision des Traditions-Eisbrechers „Stettin“ mit der Fähre „Finnsky“. Und aus Sicherheitsgründen nahm die Polizei einen Terrorverdächtigen in Gewahrsam.
Auf der anderen Seite war es ein friedliches, entspanntes und gut besuchtes Hanse Sail. „Alle Beteiligten haben zum Gelingen der Generalprobe für unser Stadtjubiläum im Jahr 2018 beigetragen“, sagt Rostocks Oberbürgermeister Roland Methling (parteilos).
25 Jahre Lichtenhagen
25 Jahre Lichtenhagen
August 1992: Gewalt gegen Asylbewerber eskaliert
Im August 1992 wütete vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen der Mob. Vier Tage lang flogen Steine und Brandsätze gegen Flüchtlinge, Vietnamesen und Polizeibeamte. Die Anwohner applaudierten. Der Ausnahmezustand überforderte alle – Politik, Polizei und auch die Presse.
Anfangs beteiligten sich vor allem Einwohner vor Ort und Jugendliche an den Krawallen. Später kamen Neonazis aus ganz Deutschland hinzu. Die Polizei - miserabel vorbereitet, schlecht ausgerüstet, von der Politik im Stich gelassen - bekam die Lage nicht in den Griff. Zwischen Untätigkeit, Zaudern und kopflosem Agieren überließ sie letztlich dem Mob das Feld.
So konnten Tausende nahezu ungehindert gegen Ausländer pöbeln, Neonazis vor einer johlenden Meute Brandflaschen anzünden, Betrunkene den Arm zum Hitlergruß heben. Nach langem Zögern räumten die Behörden am 24. August die Aufnahmestelle für Asylbewerber im Sonnenblumenhaus. Die Gewalt ging aber weiter.
Mit einer Gedenkwoche im August 2017 erinnerte Rostock an die Ereignisse.
25 Jahre nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Lichtenhagen wurden in der Stadt fünf Stelen eingeweiht.
Sie heißen „Politik“, „Medien“, „Gesellschaft“, „Staatsgewalt“ und
„Selbstjustiz“ und sollen an das Versagen aller Akteure der
Stadtgesellschaft erinnern.
Die
Gedenkstele
vor dem Medienhaus der
Ostsee-Zeitung
soll die Medien, deren tägliches Geschäft der Umgang mit Worten ist, an ihre Verantwortung erinnern. Das erklärte Künstlerin Alexandra Lotz, die die Stele zusammen mit Tim Kellner erschaffen hat. Im August 1992 seien die Rostocker Medien dieser Aufgabe nicht immer gerecht geworden und hätten zur Eskalation vor dem Sonnenblumenhaus beigetragen.
Die Stele „Staatsgewalt“ wurde an der Polizeiinspektion in
der Ulmenstraße platziert. Heftig kritisiert wurden die Beamten für
ihren Einsatz 1992. „Wir haben uns kritisch mit unserer Rolle und dem
eigenen Auftreten auseinandergesetzt“, sagt 25 Jahre später Anja Hamann,
die den Führungsstab im Präsidium leitet. „Wir sind heute eine andere
Polizei.“
Diese Bilder gehen um die Welt
Die in Norwegen erscheinende Zeitung Dagbladet
schrieb von der „deutschen Kristallnacht 1992“. Die italienische La
Repubblica sah in Deutschland das Land des „rassischen Terrors“. Und das
Svenska Dagbladet aus Schweden fühlte sich an die „erschreckenden Bilder aus dunkler Geschichte“ erinnert.
Vor
allem durch Liveübertragungen haben mehr als 20 in- und ausländische
Fernsehteams die Bilder aus Lichtenhagen übertragen. Der Journalist
Jochen Schmidt, der mit weiteren Kollegen eines ZDF-Teams am 24. August
1992 im Sonnenblumenhaus eingeschlossen war, kritisiert, dass mehrere
Fernsehsender den Verlauf der Ausschreitungen mit beeinflusst hätten.
Ihm habe ein Jugendlicher das Angebot unterbreitet, für 50 Mark den
Hitlergruß zu zeigen, berichtet Schmidt. Der britische Sender BBC,
erzählte der Junge, hätte dafür bereits gezahlt
Stadtteil kämpft um sein Image
25 Jahren nach den schweren Ausschreitungen kämpft der Rostocker
Stadtteil Lichtenhagen noch immer um sein Image: „Lichtenhagen ist aber
viel besser als sein Ruf“, sagt Ortsbeiratschef Ralf Mucha (SPD). Er schwärmt von einem lebenswerten Viertel und den
Innenhöfen, die für Kinder ein Traum seien.
Die Angriffe aus Ausländer
im Jahr 1992 hat er miterlebt: „Dass viele ,meiner’ Lichtenhäger auch
noch Beifall geklatscht haben – ja, das hat mich schockiert. Das tut mir
bis heute leid.“ Ein Problemstadtteil sei Lichtenhagen aber nie
gewesen.